Cowboys Of The British Empire
The South Rides Again, eine Abschottungsphantasie des amerikanischen Südens, erinnert sehr an das United Kingdom unter den Diskursen des Brexit. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Country seit einigen Jahren auf der Insel an Popularität gewinnt. In den USA funktionierte Country immer als musikalisches Trostpflaster in wirtschaftlich schweren und unruhigen Zeiten. Warum sollte man Trost nicht importieren.
Seit 2013 gibt es für die Fans des Nashville-Sounds in UK Country2Country, ein Festival, das simultan in London, Dublin und Glasgow stattfindet. Im ersten Jahr wurden für London 17.000 Tickets verkauft, letztes Jahr waren es schon 80.000. Überall in UK machen Country Clubs auf, die beweisen: Country ist hip, Country ist cool.
Als ein Grund für diesen Wandel wird die TV-Soap Serie „Nashville“ genannt, die sich in England größter Beliebtheit erfreute. Für Fans der Musik seien die Themen der Texte ausschlaggebend gewesen für ihre Hinwendung zum Country-Genre. Musik über Alleinerziehen, häusliche Gewalt, Alkoholismus, Konformitätsdruck, Drogenkultur und die zerstörerischen Energien moderner Ideale treffen die Nerven der Hörer. Inzwischen können die Stetsons auch für einheimische Acts in den Himmel geworfen werden. Mit großem Erfolg etablierten sich UK Country Musiker: The Shires, Ward Thomas, Wildwood Kin, Robbie Cavanagh, The Wandering Hearts oder Catherine McGrath. Für diese Künstler ist völlig klar, warum Country heute so einen Massenappeal hat: „Es sind die Geschichten.“ Doch die Geschichte von England und Country ist viel älter. Doch eine letzte Abschweifung sei erlaubt.
Der Bebop Titan Charlie Parker ging in New York häufig in eine Bar, die Charlie’s Tavern hieß. Bei seinen Besuchen drückte er in der Musikbox immer die Countrynummern. Keiner seiner Begleiter konnte verstehen, dass der Innovator des Jazz die Musik rückständiger Hinterwäldler hörte. Einmal gefragt, wie er diesen Mist ertragen könne, antwortete er: „Die Geschichten, Mann, hör Dir die Geschichten an.“
Hier scheint sich eine Gemeinsamkeit zu ergeben. Also wollen wir heute auf 674fm auch eine Geschichte erzählen.
(Nashville Club Nights in West London)
Obwohl die Mayflower nicht das erste Schiff war, das aufbrach, um im Namen der Britischen Krone in Nordamerika englische Kolonien zu gründen, dürfte es wohl das bekannteste sein. Die Pilgerväter waren zwar 1620 von Plymouth aus gestartet, um ein vollkommen neues Leben in der Fremde zu beginnen, aber sie hatten sicherheitshalber einiges aus ihrem alten Leben dabei. So gelangten in den Bäuchen der Mayflower und der folgenden Schiffe Musikinstrumente, Wiegenlieder, Musiktextsammlungen und Balladenbücher nach Amerika. Besonders der Einfluss der englischen Balladen, die häufig von Strassenmusikern geschrieben waren, ist laut Nick Tosches, in seinem kenntnisreichen und unterhaltsamen Buch „Country – Living Legends And Dying Metaphors in America’s Biggest Music“, nicht zu unterschätzen. Die kraftvollen Geschichten von den Strassen Englands, ihre Themen, Figuren und Legenden, verbreiteten sich in der neuen Heimat und führten ein Eigenleben, wurden immer wieder neu interpretiert, verändert und weitergesponnen. Besonders in der amerikanischen Folk- und Countrymusik finden sich viele Beweise dafür.
Doch diese Einflüsse hatten ein Rückreiseticket. Die komplexe Reiseroute kann nur skizziert werden, aber für die Richtigkeit der Angaben verbürge ich mich. Ganz im Sinne des Musikers und Produzenten Jim Dickinson: Große Geschichtenerzähler sind selten große Wahrheitssucher.
Die in England stationierten US-Soldaten brachten Musik mit, sie hatten Schallplatten im Gepäck. Die Hafenstadt Liverpool war ein Umschlagplatz für die auf dem Seeweg gekommenen Truppen. Laut Beatle Ringo Starr war Liverpool die Country Metropole Englands. Die Soldaten gingen, die Platten blieben. In den späten 1950ern kamen dann der King, der Killer und viele, viele andere. Und die frühen Rock’n’Roll Platten von Bill Haley, Elvis Presley, Carl Perkins und einem gezwungenermaßen völlig auf C&W Musik umschwenkenden Jerry Lee Lewis sind reinster Country. In den 1960er Jahren waren Hits aus Nashville gleichberechtigt neben Popnummern im Radio zu hören. Johnny Cash, Roger Miller oder die Everly Brothers waren ebenso beliebt wie andere Unterhaltungskünstler. Der Appetit nach originärer US-Musik aus den Bereichen Jazz, R&B, Blues und Country bei vielen englischen Musikern, die sich später in Bands wie den Rolling Stones, Led Zeppelin oder den Animals zusammenfanden, ist kein Geheimnis. In den Jahren 1965 und 1966 besuchte Bob Dylan mit den Hawks, die einige Jahre später als The Band bekannt wurden, die Insel und brachten einen wilden Mix aus Rock, Country, Gospel und Folk auf die Bühnen Englands, so elektrisierend, dass die Rolling Stones staunend im Publikum saßen. Dylans Zusammenarbeit mit Johnny Cash und seine Platte „Nashville Skyline“ sorgten für Aufregung.The Band siedelten die Geschichten ihres einflußreichen Debüts, „Music From Big Pink“, in einem alten, unheimlichen Amerika an. Country Rock wurde zu dem nächsten heißen Ding. Die Byrds schufen mit „Sweethearts at the Rodeo“ einen Meilenstein. Mitglied David Crosby wurde zu einem der Mitentwickler des Westcoast-Sounds, der viel vom Country abkupferte. Gram Parson und die Flying Burrito Brothers waren hipper als hip, inklusive Nudie-Anzug, der teuren Arbeitskleidung auch altgedienter Country-Stars. Nicht vergessen sollte man auch die frühen Pioniere des Southern Rocks: Allman Brothers. Auch bei ihnen findet man ohne Mühe die Einflüsse der Countrymusik.
Doch Country war natürlich auch in Bildern mehr als präsent. Hollywood geriet in den frühen 1960ern in eine Krise. Die Monopolstellung der großen Studios war dahin, das Fernsehen gewann an Boden, nicht im Kino, sondern ganz bequem im heimischen Wohnzimmer. Die alten Formeln funktionierten nicht mehr. Etwas neues musste her. Karl Mays Romane wurden zur Blaupause für die europäische Westernproduktion, obwohl die Filme eher Abenteuerfilme in Westernkulisse sind. Doch der Erfolg dieser Sauerkraut-Western aus Deutschland inspirierte besonders Filmemacher in Italien, mehr als die originären US-Produkte. Man dachte wohl, wenn „Der Schatz im Silbersee“ Gold wert ist, dann greifen wir uns mehr als nur eine Handvoll Dollar ab. Gesagt, getan, der Spaghetti-Western war geboren und wuchs heran zu Ringo, Django, Gringo und Santana, die der Einfachheit halber von ständig neuen Darstellern verkörpert in Filmserien ewig lebten. Diese Helden waren moralisch flexibel, kämpften zwischen den Fronten mit List um ein Stück Freiheit und Individualität, nicht selten gegen die guten Bürger, die die alte, meist korrupte Ordnung verkörperten. Aber der größte Pluspunkt dieser neuen Helden war ihre Jugend. John Wayne, James Stewart, Gregory Peck und all die anderen saßen schon so lange im Sattel, dass ihre Haare inzwischen Friedhofsblond waren. Das junge Publikum wollte aber lieber junge Helden auf der Leinwand sehen, die sich gegen das Alte stellten. Aus den USA kamen Spätwestern, die auch von dem Einfluss der italienischen Filme geprägt waren. Gier, Rassismus, Gewalt und Sadismus zeichneten die von Reaktionären so gerne beschworenen guten, alten Zeiten in einem wenig schmeichelhaften Licht. Oder wie Dolly Parton es mit dem Titel eines ihrer Songs ausdrückte: „In the good old days (when times were bad).
Cowboys, Hobos, Outlaws und Gunfighter waren wirkmächtige Figuren des Popkanons. Sie entzündeten Träume und Phantasien ebenso wie sie sie befeuerten. Und die Songs des Country lieferten die Geschichten. Die Versenkung in diese Musik bot aber auch die Möglichkeit sich ganz eigene Wurzeln zu schaffen, Wurzeln, die fernab des grauen englischen Himmels lagen. In den 1960ern und 1970ern haben viele sehr namhafte englische Musiker Country aufgenommen, manche nur einzelne Songs, andere ganze Alben. Auf diesen Platten erfanden sie ihr eigenes Amerika, vermengten all die Einflüsse, Songs, Filme, Bilder und Geschichten zu ihren eigenen Geschichten.
Hören wir heute auf 674fm die Cowboys of the British Empire:
Rolling Stones, Led Zeppelin, Terry Reid, Elvis Costello, the Beatles, Nick Lowe, Eric Clapton, David Bowie, The Hollies, Elton John, Rod Stewart und viele mehr.
Die ganzen ungeheuerlichen Geschehnisse vertraute mir in einer bierschäumenden Nacht mein Freund Natty Bumppo an. Eine erlesene Pfanne britischer Bohnen frisch auf dem Plattenteller. Also von wegen nicht die Bohne wert:
Heute bei La Vida No Vale Nada auf 674fm.